Paradigmenwechsel in der Produktion - Die Fraktale Fabrik (Teil 1)

Prof. Dr.-Ing. H. Kühnle

1. Abschied von linearen Denkmodellen

Noch nie zuvor haben sich die Rahmenbedingungen für Unternehmen derart schnell und umfassend geändert, wie wir das gegenwärtig beobachten können. Die Turbulenz der Unternehmensumwelt spiegelt sich wider im Zusammenbrechen politischer Systeme, dem Rückgang des Absatzmarktes, weltweitem Konkurrenzkampf mit international agierenden, aggressiven Unternehmen, kürzer werdenden Technologie- und Produktlebenszyklen sowie der Verknappung der Ressourcen und der zunehmenden Bedeutung des Umweltschutzes.

(Bild - Thesen und Konsequenzen). Erfolgreiche Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht nur auf den Wandel reagieren, sondern mit dem Wandel agieren. Die Schnellen besiegen am Markt die Langsamen. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich ab, daß die in der Praxis dominierenden Organisationsstrukturen nach hierarchischen und tayloristischen Leitbildern an ihre Grenzen stoßen. Zentralisierung, Spezialisierung und Bürokratie haben in den Unternehmen zu Schwerfälligkeit und lnflexibilität geführt Die vom Markt geforderte Reaktions- und Anpassungsfähigkeit ist mit derartigen Unternehmensstrukturen kaum zu gewährleisten. Wer erkennt, daß das Unternehmensumfeld nicht voraus berechenbar ist, muß mit dem Dogma festgefügter zentralistischer Organisationskonzepte brechen.

Thesen

In Wirtschaft und Wissenschaft ist die Notwendigkeit neuer Organisationsstrukturen erkannt. Die Suche nach neuen Organisationskonzepten, weiche eine nachhaltige Steigerung der Anpassungsfähigkeit an das turbulente Umfeld ermöglichen, steht damit auf der Tagesordnung.

Sicherlich werden wir keine Gesetzmäßigkeiten finden, nach denen sich für bestimmte Rahmenbedingungen und Einflußgrößen eindeutig die optimale Organisationsstruktur zuordnen läßt. Allerdings lassen sich die wesentlichen Einflußgrößen und Rahmenbedingungen identifizieren und daraus entsprechende Leitlinien ableiten. In letzter Konsequenz bedeutet das, daß jede Unternehmensstruktur immer individuell aufgrund der jeweiligen Gegebenheiten des Unternehmens bestimmt werden muß. Die gefundene Unternehmensstruktur muß in der Lage sein, sich ständig und dynamisch an die jeweiligen Anforderungen anzupassen. Aufgrund der erreichten Komplexität und der turbulenten Umwelt kann davon ausgegangen werden, daß sich die Unternehmen in einem ständigen Optimierungsprozeß befinden werden.

2. Grundprinzipien der Fraktalen Fabrik

Ausgehend von der gegenwärtig und zukünftig turbulenten Unternehmensumwelt ergeben sich, wie oben dargestellt, qualitativ neue Anforderungen an unsere Unternehmen. Es wird uns nicht mehr möglich sein, durch kleine Veränderungen bestehender Strukturen diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Unser Denkmodell der Fabrik muß sich grundlegend ändern, ein neues Paradigma kann unsere Unternehmen überlebensfähig machen (Bild Tauglichkeit von Modellvorstellungen in Abhängigkeit von Dynamik und Vorhersagbarkeit von Abläufen). Dieses neue, erfolgversprechende Organisationskonzept fasse ich unter dem Titel "Fraktale Fabrik" zusammen.

Fraktale Fabrik definieren wir als ein offenes System, welches aus selbständig agierenden und in ihrer Zielausrichtung selbstähnlichen Einheiten - den Fraktalen - besteht und durch dynamische Organisationsstrukturen einen vitalen Organismus bildet. Das Bild der "Fraktalen Fabrik" lehnt sich eng an die Mathematik der Fraktale zum Beschreiben natürlicher Strukturen an. Aus der Definition gehen drei wesentliche Eigenschaften von Fraktalen hervor: Selbstorganisation, Selbstähnlichkeit und Dynamik. Diese Charakteristika sind von besonderer Bedeutung für unsere Aufgabenstellung, neue Organisationsstrukturen für die aktuellen Anforderungen zu erarbeiten.

Das Fraktal stellt sich also als eine selbständig agierende Unternehmenseinheit dar, deren Ziele und Leistung eindeutig beschreibbar sind. Die Selbstähnlichkeit und Selbstorganisation spiegelt sich im Zielsystem wider, das sich aus den Zielen der Fraktale ergibt, widerspruchsfrei ist und der Erreichung der Unternehmensziele dient. Fraktale betreiben operativ, taktisch und strategisch Selbstorganisation. Die ständige Anpassung und Optimierung der dezentralen Organisationsstrukturen gewährleistet eine hohe Systematik. Hierfür sind die Fraktale über ein leistungsfähiges Informations- und Kommunikationssystem miteinander vernetzt. Die Informationsversorgung folgt dem "Holprinzip", die Fraktale legen (bedarfsorientiert) Art und Umfang ihres Zugriffes auf die Daten fest. Die Grenzen zwischen Unternehmensbereichen und auch zwischen Unternehmen sind unscharf, sie ermöglichen den Informationsaustausch und damit kooperative, partnerschaftliche Beziehungen mit Kunden und Lieferanten. Zwischen Fraktalen bestehen ablauffunktionale, prozeßbedingte Verbindungen, die im Interesse des Gesamtsystems aufgebaut werden. Prinzipiell wird versucht, Abläufe ganzheitlich zu bewältigen und keine unnötigen Schnittstellen aufzubauen. Damit trägt die Struktur den Aspekten Geschwindigkeit und situationsbedingte Anpassungsfähigkeit Rechnung.

Die bekannte Komplexitätsreduktionsmethode nach Taylor, nach der funktionale Bereich arbeitsteilig zerlegt wird, läßt sich auf unser Modell nicht mehr anwenden. Die Strukturierung muß derart erfolgen, daß sowohl die Fraktale als auch die gesamte Fabrik aufgrund der Selbstähnlichkeit derselben Systematik unterworfen werden. Die Erfahrungen aus einer Reihe von Projekten zeigen, daß sich ein Unternehmen praktikabel anhand einer Auflösung von sechs Ebenen beschreiben läßt. Der Vorteil dieses Konzeptes besteht darin, daß die Ebenen durchgängig, aber auch jeweils getrennt voneinander betrachtet und bearbeitet werden können .

Die kulturelle Ebene beschreibt die Kulturelemente, d.h. die Wertvorstellungen im Unternehmen. Es werden Leitbilder, gemeinsame Wertanschauungen und Grundsätze zum Umgang miteinander und mit der Außenwelt geprägt. Darüber hinaus wird der eigenen Organisation ein Platz zugewiesen und ein Zweck vorgegeben.

Auf der strategischen Ebene wird die Art und Weise festgelegt, in der die im Unternehmen vorhandenen Ressourcen eingesetzt werden, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen. Es gilt ein Unternehmenszielsystem zu erarbeiten.

Die sozio-psychologische Ebene umfaßt die Gesamtheit aller psychologischen, sozialen und informellen Faktoren, die das Beziehungsgefüge aller Mitarbeiter des Unternehmens bestimmen. Als zentrale Größen dieser Ebenen können Aufbauorganisationen und Kommunikation identifiziert erden.

Die wirtschaftlich-finanzielle Ebene der Fraktalen befaßt sich mit dem Modus der Verrechnung von Leistungen. Im Vordergrund stehen hier betriebswirtschaftliche Kenngrößen hinsichtlich Wirtschaftlichkeit und Leistungsrelevanz.

Die informationelle Ebene hat primär die Gestaltung der formalen Informationsflüsse und damit vor allem die Ablauforganisation zum Gegenstand.

Zudem gilt es die Prozeß- und Materialflußebene zu unterscheiden, auf der die Anordnungen und Flußbeziehungen im Unternehmen hinsichtlich des Zielsystems gestaltet werden.

Das dargestellte Ebenenkonzept unterstützt nicht nur die Darstellung des gesamten Unternehmens, sondern bildet auch die einzelnen Fraktale ab. Es dient somit der Komplexitätsreduzierung von Unternehmen durch Strukturbildung, bei . Erhalt der Ganzheitlichkeit der Aufgabenerfüllung.

Fortsetzung im Thema des Monats Januar / Februar 97


Hermann Kühnle